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Titel
Bestialische Praktiken. Tiere, Sexualität und Justiz im frühneuzeitlichen Zürich


Autor(en)
Mardones, Jose Cáceres
Reihe
Tiere in der Geschichte
Erschienen
Köln 2022: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
343 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gerd Schwerhoff, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Oft sieht sich der Kriminalitätshistoriker in der Vergangenheit mit Verhaltensweisen konfrontiert, die er aus der Gegenwart kennt, auch wenn sie in der Vergangenheit andere Ausprägungen hatten als heute: Mord und Totschlag, Diebstahl, Raub und Fälscherei. Es gibt aber auch Delikte, nicht zuletzt im Bereich der Sexual- und Sittendelinquenz, die die Fremdartigkeit der Frühen Neuzeit stärker hervortreten lassen. Gleichsam ein Höchstmaß an Alterität ist die Bestialität, der sexuelle Verkehr mit Tieren. Einerseits fügt sie sich in eine ganze Reihe anderer sexueller Praktiken ein, die nicht auf Zeugung ausgerichtet waren und deshalb von Theologie und Recht als „Sodomie“ stigmatisiert wurden. Anders als der – ebenfalls darunter subsumierte – gleichgeschlechtliche Geschlechtsverkehr dürfte die Bestialität aber für den modernen Betrachter ein doppeltes Irritationsmoment behalten haben, nicht nur in Hinblick auf die strenge Sanktionierung, sondern auch auf das inkriminierte Verhalten selbst, das ihm ebenso fremd erscheinen mag wie das gesamte Zeitalter. Eine wachsende Zahl von Fallstudien ist seit einigen Jahrzehnten bemüht, sich einen geschichtswissenschaftlichen Reim auf das Phänomen der frühneuzeitlichen Bestialität zu machen. Neben einigen englischsprachigen Studien (wie der Pionierarbeit von E. William Monter aus dem Jahr 1980) ist aus dem deutschsprachigen Bereich vor allem die Monographie von Susanne Hehenberger zu nennen.1 Inzwischen hat sich die wissenschaftliche Großwetterlage allerdings insofern geändert, als mit den animal studies ein neuer Betrachtungshorizont existiert. Der Blick durch die „animal lense“2 verspricht neue Erkenntnisse. So erscheint das Buch, hervorgegangen aus einer von Bernd Roeck in Zürich betreuten Dissertation, als passender Auftakt für die neue Reihe „Tiere in der Geschichte“, herausgeben von Christian Jaser, Mieke Roscher und Nadir Weber.

Das Eingangskapitel stellt, wie üblich, Fragestellung, Quellenkorpus und den historischen Kontext des reformierten Zürich im 17. Jahrhundert vor. Gedrängt und dicht entfaltet es überdies die konzeptuellen Zugänge. Neben der Tiergeschichte bildet auch die Sexualitäts- und Körpergeschichte einen wichtigen Fokus. Reflektiert wird überdies der rechtliche Rahmen, dem die vornehmlich zugrunde gelegten Quellen entsprangen. Als Basis der Fallstudie fungieren Gerichtsakten, vornehmlich Verhörprotokolle und Zeugenaussagen, zu 69 „Bestialitätsfällen“ des 17. Jahrhunderts mit insgesamt 81 Angeklagten (vgl. S. 29, 295-297).

Im zweiten Kapitel über „Tiere, Justiz und Gesellschaft“ wird zunächst der Gang eines Verfahrens wegen Bestialität von dessen Einleitung bis zum Urteil gleichsam idealtypisch durchmessen. Dabei bezieht sich der Verfasser immer wieder exemplarisch auf den Prozess gegen Conrad Summerer im Jahr 1600, wobei dessen freiwilliges Geständnis einer 20 Jahre zurückliegenden „Missetat“ allerdings eher untypisch war. In seiner sorgsamen Rekonstruktion der Prozesspraxis bezieht sich der Verfasser häufiger auf die Arbeit von Francisca Loetz, die nicht nur in Bezug auf ihr engeres Thema Gotteslästerung, sondern auf die Zürcher Gerichtspraxis allgemein wegweisend ist.3 Einige Bewertungen von Mardones sind dabei durchaus diskutabel. Dass es für die Obrigkeit „weithin keinen Unterschied (machte), ob Geständnisse mit oder ohne Folter abgelegt wurden“ (S. 61), erscheint zweifelhaft. Tatsächlich bemerkenswert ist die Strafpraxis gegenüber Delinquenten in Bestialitätsfällen, insofern 43 Strafurteile auf Hinrichtung, immerhin aber 21 auf Freilassung lauten (S. 68). Ein Widerspruch zur häufig konstatierten und beobachteten Rigorosität in Bezug auf ein Delikt, für das rechtliche und theologische Normen sehr einhellig die Todesstrafe forderten, besteht hier nicht unbedingt. Oft konnte nicht der letzte Beweis für die Tat erbracht werden (S. 70), und in diesen Fällen waren die Gerichte offenbar vorsichtig. Daraus lässt sich nicht unmittelbar eine „vergleichsweise Milde der zürcherischen Obrigkeit“ (S. 108) ableiten. Insgesamt hätte man sich zur Kasuistik der Gerichte mehr Ausführungen gewünscht.

In bislang unbekannter Gewissenhaftigkeit und Detailtreue werden bereits in diesem Kapitel die Tiere zum Thema gemacht, wobei über das Gerichtsverfahren hinaus auf zeitgenössische gelehrte Literatur zurückgegriffen wird wie Conrad Gessners "Historia animalium" (S. 76f.). Vor allem Nutztiere waren involviert, in zwei Drittel aller Fälle Ochsen und Kühe, in über zwanzig Prozent Pferde. Dabei wurden die Tiere oft noch stärker individualisiert, indem von Kälbern, „Zeitkühen“ (Jungtieren) und erwachsenen Kühen, von Rössern, Stuten oder „Mönchen“ (Wallach) gesprochen wird. Differenziert wird weiterhin nach Farbe und Geschlecht. Zu einem runden Viertel waren männliche Tiere beteiligt, ein Indiz für die Begrenztheit der Parallelisierung zwischen Mensch und Vieh (S. 84). Über den Umgang mit den beteiligten Tieren und ihre Bestrafung erfahren wir in Zürich im Vergleich zu anderen Orten sehr wenig; oft scheinen die Tiere von ihren Besitzern schnell verkauft worden zu sein, um der unvermeidlichen Besitzminderung, die mit dem Delikt auch für die Tiere verbunden war, in Grenzen zu halten. Fluchtpunkt des Kapitels bildet ein Abschnitt darüber, ob „die Tiere von den menschlichen Beteiligten der Gerichtsverfahren als eigenständige Akteure begriffen“ wurden (S. 104), inwieweit sie zum Beispiel durch ihre Kopräsenz und ihre Bewegungen das Geschehen mitgestalteten. Dabei handelt es sich um eine Gratwanderung, denn Mardones lässt keinen Zweifel daran, dass alle geschilderten Wahrnehmungen „zutiefst im gerichtlichen Kontext verwurzelt“ waren (S. 88), also rechtlichen Erfordernissen und Bedürfnissen entsprangen. Dennoch versucht er, einer gängigen kriminalhistorischen Forschungspraxis folgend, gleichsam durch das Verfahren hindurch auf menschliche Wahrnehmungen und Verhaltensmuster zuzugreifen. Während das Gerichtsverfahren und die strafrechtliche Verfolgung zum Beispiel „die Differenz zwischen Menschen und Tieren“ performativ bestätigen wollten, löste sich bisweilen in den Schilderungen der Angeklagten über „tierische“ Praktiken im bestialischen Akt beziehungsweise als Vorbild desselben die „fundamentale Differenz zwischen Menschen und Tieren“ auf (S. 109f.).

Das dritte Kapitel über die „bestialische Praxis“ beschäftigt sich zum einen mit der räumlichen und zeitlichen Dimension. Als „Tatorte“ werden Wald, Weide und Stall dingfest gemacht, als vordringliche Tatzeiten der frühe Morgen oder der Abend beziehungsweise die Nacht. Zum anderen wird die „Praxis der Bestialität“ in ihre einzelnen Stufen zergliedert wie „hingehen, stillhalten, anstehen“ oder „entblößen und eindringen“. Dabei wird die Situativität des beschriebenen Verhaltens in der eingehenden Analyse des Quellenmaterials plastisch gemacht, eines Materials, das sprechend, aber nicht übersprudelnd ist und das zum Beispiel über die Empfindungen des Delinquenten nur wenig verrät (S. 142f.). Gerade in diesem Kapitel wechseln Quellenanalysen manchmal unvermittelt mit Bezügen auf Referenzkonzepte, etwa auf die Praxistheorie á la Schatzki und Reckwitz. Manchmal fragt sich der Leser, ob hier die Theorie die Analyse anleitet oder ob nicht eher die Analyse in eine Beglaubigung der Theorie mündet, wenn etwa bestialische Praktiken „im Spannungsfeld von Wiederholung und Unbestimmtheit“ verortet werden (S. 134). Mitunter werden banale Tatbestände etwas hochtrabend präsentiert, wenn als gemeinsames Kennzeichen „der Räume Weide und Stall die Anwesenheit der Tiere“ festgehalten wird (S. 129) oder „das Entblößen als eine praktische, zweckorientierte Handlung“ bezeichnet wird, „gebunden an die unmittelbar nachfolgende Handlung: die Penetration“ (S. 140). Das Fazit, Bestialität werde „von den Akteuren vor allem von den Bedingungen ihrer Praktizierbarkeit gestaltet und weniger von bestimmten (diskursiven) Wissensordnungen“ lässt mich ebenso ratlos zurück wie die Feststellung, hier manifestiere sich „zugleich Anpassung und Eigensinn“ (S. 144).

Das vierte Kapitel verortet die Bestialität im Feld von „Theologie, Religion und Sünde“. Interessant ist, dass der Verkehr mit Tieren in Zürich begrifflich nicht, wie anderswo, als „Sodomie“ verstanden wurde, sondern dass sich hier seit Mitte des 17. Jahrhunderts „Bestialität“ als Spezialbegriff durchsetzte. Als „Ketzerei“ wird bestialisches Tun zwar verstanden, aber relativ selten explizit bezeichnet. Insgesamt herrschte eine Rhetorik der Abscheu vor, und bei ihren Aussagen rekurrierten die Angeklagten häufig auf die „Grundlagen des reformierten Glaubens“ (S. 191).

Von zentraler Bedeutung erscheint das fünfte Kapitel zur Sexualitäts- und Körpergeschichte, das gleichsam den geschlechtlichen Kern der Bestialität zu ergründen sucht. Gewissermaßen als heißer Kern des Kapitels kann die Hypothese gelten, dass – jenseits der Bedrohung, welche die Bestialität für die männliche Ehrenhaftigkeit und Ehefähigkeit bedeutete – der Geschlechtsakt mit Tieren nicht nur eine „Ersatzoption“ für junge ledige Männer darstellte, sondern eine „eigene sexuelle Praktik, die in der sexuellen Biographie der Angeklagten eine zeitweilige Konstanz gewinnen konnte“. Insofern müsse „Foucaults Verdikt, es habe in der Vormoderne keine über Sexualität definierte Individualität gegeben, revidiert werden“ (S. 249f.). „Subjektivierung der Begierde“ (präziser vielleicht „Subjektivierung durch Begierde“?), das ist in der Tat eine starke These, die allerdings auf den wenigen Fällen beruht, wo die Angeklagten eine längere Karriere sexueller Devianz schildern; und auch diese wenigen Fälle werden nach meinem Eindruck interpretatorisch stark belastet, indem „eine gewisse Alltäglichkeit“ bestialischer Sexualität herausgelesen wird (S. 234).

Im sechsten und letzten Hauptkapitel über den „Bruch der sozialen Ordnung“ kehrt die Darstellung zur Ebene des Verfahrens zurück. Hier wird das Verhalten von Zeugen, Denunzianten und Familienmitgliedern aufgezeigt, die Wege zur Anzeige bei Obrigkeit und Gericht dargelegt und die unmittelbaren Reaktionen der Delinquenten thematisiert. Es geht um die sozialen Dynamiken der ländlichen Gesellschaft „in ihrem Wechselspiel mit der städtischen Herrschafts- und Gerichtspraxis“ (S. 283). Ein kurzer vierseitiger „Schluss“ rundet die Arbeit ab.

Wie kann eine angemessene Gesamtbeurteilung ausfallen? Potentielle Kritikpunkte zu finden fällt mir nicht schwer, einige davon sind bereits angesprochen worden. So wird wenig über mögliche Entwicklungen des Verfahrens und der Verhaltensweisen während des Untersuchungszeitraum gehandelt. Bei manchen Interpretationen, auch das mag deutlich geworden sein, habe ich den Eindruck einer gewissen theoretischen Überdeterminierung: Die konzeptuellen Überlegungen und die Quellenbefunde befinden sich nicht immer in einer guten Balance, bisweilen drohen erstere die letzteren gleichsam zu überwuchern. Und mit manchen Aussagen wie jener, „die Alternative Tier oder Mädchen“ bedeutete „eine neue Ontologisierung des Tieres im Rahmen der Heteronormativität“ (S. 210f.), kann ich wenig anfangen. Aber jenseits solcher Irritationen und kritischen Reflexe überwiegt schließlich doch bei weitem die Anerkennung für die Fähigkeit und für den Mut des Verfassers, sich nicht nur an ein sperriges Thema zu wagen, sondern ihm auch weiterführende und herausfordernde Interpretationen abzugewinnen. In diesem Sinn dürfte die Arbeit einen Meilenstein der Forschung werden, ganz gleich, wie kritisch die Diskussion ihrer Thesen im Einzelnen auch ausfallen mag.

Anmerkungen:
1 E. William Monter, Sodomy and Heresy in Early Modern Switzerland, in: Journal of Homosexuality 6/1-2 (1980), S. 41-55; Susanne Hehenberger, Unkeusch wider die Natur. Sodomieprozesse im frühneuzeitlichen Österreich, Wien 2006. Oft übersehen und auch von Mardones nicht in Betracht gezogen ist das einschlägige Kapitel von Karl Wegert, Popular culture, crime and social control in 18th-century Württemberg, Stuttgart 1994, S. 189-207.
2 Joshua Specht, Animal history after its triumph. Unexpected animals, evolutionary approaches, and the animal lens, in: History Compass 14 (2016), S. 326-333.
3 Francisca Loetz, Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen 2002.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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